Die Wölfin war meine Amme,
an ihrer Brust habe ich gelegen
und ihre Milch hat mich genährt
bis sie zu meiner Mutter geworden ist.
Ihre Töchter und Söhne sind meine Geschwister.
Ich aß mit ihnen das Fleisch der Lämmer,
die wir im Spiel erlegt haben.
Und ich stimmte ein in ihren Gesang
und sang mit ihnen das Lied der Lieder.
Groß und stark bin ich geworden,
scheu, beobachtend und willensfest,
zäh und immer hungrig.
Bei Vollmond treibt es mich hinaus in die Nacht,
nackt und ungewaschen streife ich durch die Wälder,
bade im Schnee
und folge dem Geruch,
der mir sagt, wo siche meine Sippe trifft.
Doch ich finde sie nicht mehr,
ich rieche sie nicht mehr
und ich weiß, der Mensch hat sie vertrieben.
Und ich stimme ein in ihren Gesang
und heule ohne sie das Lied der Lieder.
Doch als an Heilig Abend der Mond voll ist,
da treibt es mich hinaus.
Ich töte Hase, Reh und Kalb,
bohre meine Zähne in ihre Hälser,
schmecke das pulsierende Blut auf meiner Zunge,
heiß und salzig rinnt es meine Kehle hinab.
Und vor meinem tierischen Auge,
sehe ich meine Mutter die Wölfin
und meine Brüder und Schwestern
scharen sich um sie.
Im Rausche des frischen Blutes
Höre ich ihren Ruf.
Sie versammelt alle ihre Kinder,
ich verstehe ihren letzten Schrei
der von Wut und Racheglüst
herübergetragen wird.
Mein tierisches Auge
blickt in die andere Welt
Und antwortet ihrer gepeinigten Seele.
Und ich übernehme das Amt der Ämter,
ich trete das Erbe der Wölfe an.
Und als letzter Wolf dieser Erde
stimme ich ein in ihren Gesang
und singe mit ihnen das Lied der Lieder.
© 1996 by Christian Maier
No hay comentarios:
Publicar un comentario